Wenn das Engineering digitalisiert ist, braucht es dann noch Entwickler und Konstrukteure? „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Unternehmen demnächst auf Konstrukteure oder Entwickler verzichten können“, sagt Jan Reimann, Projektleiter beim Getriebehersteller Flender. Warum er sich da so sicher ist und welche Vorteile die Digitalisierung für die Entwicklung bei Flender und für ihre Kunden mit sich bringt, erklärt er uns hier.
Vor einem halben Jahr haben Sie das Getriebe „Flender One“ vorgestellt. Verkauft sich es sich denn gut?
Jan Reimann: Ja, das Flender One wird sehr gut von unseren Kunden angenommen. „One“ steht für Individualität, für Effizienz im Betrieb und Auslegung, aber auch für eine smarte Onboard-Sensorik, die wir mit unserer neuen, digitalen Marke AIQ vertreiben.
Das einstufige Getriebe kann sich jeder Kunde individuell auslegen. Sind Getriebe nicht eigentlich ein Serienprodukt?
Reimann: Eigentlich ist Flender One eine Getriebebaureihe. Das Getriebe, das wir auf der Messe vorgestellt hatten, ist unsere erste Auskopplung. Der Flender One ist optimiert für Industriepumpen-Antriebe und Papiermaschinen. Individuell wird es, weil wir es speziell auf die Anforderungen unserer Kunden maßschneidern und auslegen. Vielleicht möchte der Kunde eine Ölversorgungsanlage, Sensorik oder das Getriebe braucht spezielle Abdichtungsmaßnahmen … das sind die Individualisierungen, die wir am Getriebe vornehmen. Bei den einstufigen Getrieben kommt noch dazu, dass wir auch eine sehr hohe Drehzahlgenauigkeit realisieren können. Mit 103 direkt auswählbaren Übersetzungen in einer Baugröße haben wir das dichteste Netz an Übersetzungen. Das gibt es so im Markt nicht.
Wie haben Sie das geschafft?
Reimann: Das ist ein kleines Geheimnis ... Nein, Spaß! [er lacht] Wir haben konsequent unsere Entwicklung, unser Engineering-Knowhow, sämtliche Engineering-Abläufe und Regeln des Produktentwicklungszyklus digitalisiert. Dadurch konnten wir die Übersetzung so dicht designen – in einer sehr kurzen Produktentwicklungszeit. Das Schöne ist:
Seit wir die eher einfachen Engineering-Tätigkeiten digitalisiert haben, haben wir mehr Zeit, uns mit den Kundenbedürfnissen auseinanderzusetzen.
So fanden wir heraus, dass für den Betrieb von Pumpen und für den Betrieb von Papiermaschinen die exakten Übersetzungen des Getriebes sehr wichtig sind. Und weil wir durch das Digitalisieren auch mehr Zeit für Entwicklungen haben, haben wir es geschafft, mit einer maximalen Abweichung von 1,5 Prozent die exakte Drehzahl zu treffen.
Was wäre denn die Standard-Übersetzung?
Reimann: Wir hatten vorher 12 bis 20 Standard-Übersetzungen, jetzt haben wir 103. Wir haben uns also verfünffacht.
Sie sagen, dass sie das drehzahldichteste Übersetzungsnetz haben. Ist das nötig oder eher Overengineering?
Reimann: Bei Pumpen-Anwendung ist das absolut eine Forderung der Kunde. Eine Industriepumpe hat einen idealen Betriebspunkt. In Abhängigkeit der Drehzahl der Pumpe kann ich entsprechend ein Medium fördern. Das Medium möchte ich mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit und Effizienz fördern. Es gibt einen optimalen Betriebspunkt einer Pumpe und je näher ich meinen Antriebsstrang an dieser idealen Drehzahl entlang betreibe, desto wirtschaftlicher kann ich die Pumpe betreiben.
Gibt es im Industriepumpen-Bereich auch Anwendungen, die Sie mit der Felnder One nicht bedienen können?
Reimann: Bisher ist mir noch keine begegnet.
Das Getriebe soll 1 zu 1 das Vorgängermodell ersetzen und per Plug-&-Play installiert werden. Einfach anschließen und los – wie kann das funktionieren?
Reimann: Die Abmessungen des Vorgängermodells haben wir natürlich beibehalten, denn nur weil Flender ein neues Getriebe rausbringt, werden unsere Kunden nicht alle ihre Anlagen anpassen. Wir haben uns also bei der Entwicklung des neuen Getriebes an den Anschlussmaßen und den Abmessungen des alten Baukastens orientiert und viele Abmaße einfach übernommen. Durch die Tools im Kundenservice gelingt so ein Retrofit relativ schnell: Der Kunde scannt sein Getriebe und bekommt direkt das Neue angeboten. Da die Abmaße geometrisch identisch sind, ist das Getriebe 1 zu 1 austauschbar.
… und der Austausch lohnt sich wegen der Drehzahlregelung?
Reimann: Nicht nur. Wir haben auch im Innenleben des Getriebes einiges verbessert. Oft wird bei einer Getriebeauslegung nur auf das Drehmoment geschaut, es sind aber mehrere Eigenschaften, über die man ein Getriebe definiert: die Lebensdauer des Lagers, die Effizienz der Verzahnung und die Wärme-Grenz-Leistung – das muss in einer ausgewogenen Art und Weise gestaltet werden. Zum Beispiel spart der Kunde bei einem Austausch eines alten gegen ein neues Getriebe relativ viel Geld im Betrieb, weil wir Verlustleistungen reduziert haben – um bis zu 50 Prozent sogar. Je nach Anwendung liegt der Return on Invest schon bei 1 bis 2 Jahren.
Wir haben die Verlustleistung um 50 Prozent reduziert.
Was genau haben Sie denn am Getriebe verändert?
Reimann: Bezüglich der mechanischen und thermischen Eigenschaften haben wir das Getriebe balanciert, den Ölverbrauch reduziert, die Performanz aber beibehalten. Wir haben es geschafft, die Lebensdauer der Lager auf über 100.000 Stunden zu erhöhen; und die Verlustleistungen im Getriebe zu halbieren. Außerdem haben wir die Oberfläche des Getriebes vergrößert, wodurch mehr Wärme abgeführt wird und der Kunde teils weniger aufwendige Kühllösungen nutzen kann. Aber eigentlich geht es gar nicht um diese technischen Features.
Sondern?
Reimann: Wir sehen unsere Produkte als großen Mehrwert eingebettet in einer Prozesslandschaft – mit Produktkonfiguration.
Die Konfiguration soll unserem Kunden das Leben erleichtern.
Er kann sich über alle technischen Daten und Informationen Gedanken machen, aber er muss es nicht. Wir haben den Konfigurator so angepasst, dass man mit nur drei Angaben direkt zu einer Produktauswahl kommt.
Welche drei Angaben sind das denn?
Reimann: Kunden wählen eine Anwendung, eine Leistung, die übertragen werden soll, und eine Drehzahl aus, die sie übersetzen möchten. Anhand der Applikation wissen wir die typischen klimatischen Umgebungsbedingungen, den Anwendungsfall oder die Anwendungsbedingungen mit der die Anlage betrieben wird. Daraus ergibt sich der erste Vorschlag. Der kann im zweiten Schritt individualisiert werden.
Wenn das Engineering komplett digitalisiert ist und alles per Algorithmen läuft, werden Konstrukteure dann nicht überflüssig?
Reimann: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Unternehmen demnächst auf Konstrukteure oder Entwickler verzichten können. Ich glaube aber, dass sich die Jobprofile erweitern und verändern. Das sehen wir heute schon. Ich bin erst 40 Jahre alt und habe im Studium noch mit Tusche und am Reißbrett konstruiert. Inzwischen arbeiten wir mit 3D-CAD-Programmen. Wir haben gezeichnet, wir haben 3D-modelliert und jetzt erweitern wir diese Modellierungen um Regelbeschreibung und arbeiten mit Datenbanken. Ich bin mir sicher, dass wir diese Weiterentwicklung unserer Berufe brauchen werden, um unsere Produkte international wettbewerbsfähig zu gestalten.
Ich glaube nicht, dass wir auch nur einen Entwickler weniger brauchen werden.
Aber wenn alles über den Konfigurator läuft, ist noch eine andere Berufsgruppe bedroht …
Reimann: Der reine Verkaufsprozess läuft nicht ohne Menschen. Da ist immer ein Vertriebsmitarbeiter dabei, der mit dem Kunden die genaue Konfiguration festlegt und unterstützt.
Welche Vorteile bietet Ihnen denn die Digitalisierung des Engineering-Prozesses?
Reimann: Wenn man anfängt die Regeln, Daten und das Erfahrungswissen zu beschreiben, um es in eine digitale Welt zu transferieren, will zuerst niemand diesen Aufwand betreiben. Aber der Trend zur Individualisierung führt dazu, dass Kunden keine Kompromisse mehr eingehen wollen. Dazu kommt das Thema Nachhaltigkeit, sprich: ein optimaler Betrieb. Auch Kostendruck spielt eine entscheidende Rolle und alles muss schnell gehen. Also haben wir unsere Prozesse konsequent digitalisiert und die Standards unserer Produkte in Regeln überführt. Mit Standardausführungen müssen wir uns nicht mehr beschäftigen und können uns so mehr Zeit für Individualisierungen nehmen.
Die Arbeit zu Beginn hat sich also gelohnt.
Reimann: Ja. Wir sind sogar noch einen Schritt weiter gegangen! Wir haben schon die ersten Individualisierungswünsche, wie variable Wellen und Drehzahlgenauigkeit in Algorithmen übersetzt.
Okay, Ihr Engineering ist sehr digital. Was ist mit dem Getriebe?
Reimann: Wir haben mit einer on-Board-Sensorik, dem AIQ, den Schritt von einer rein mechanischen Betriebseinheit zu einer elektromechanischen Betriebseinheit mit Sensor gemacht. AIQ ist tief in das Getriebe integriert und misst im Betrieb die Drehzahl, die Schwingungen des Getriebes und die Öltemperatur. Auf Basis dieser drei Messdaten wissen Anwender immer, wie es um den Zustand ihres Getriebes steht – Wartungs- und Service-Empfehlungen inklusive.
Dazu müssen Anwender die Daten wahrscheinlich an Sie übermitteln. Wird der Service von Kunden angenommen?
Reimann: Einige möchten das nicht. Aber viele Kunden finden es faszinierend, wenn sie mehr über die Anlage lernen und ihren Prozess optimaler betreiben können. Die Erkenntnisse fließen in ihre eigene Konstruktion mit ein. Zum Beispiel hatten wir auf Basis unserer Daten festgestellt, das Getriebe meistens zu maximal 50 Prozent ausgelastet sind. Wenn man diese Erkenntnis berücksichtigt, kann man viel Stahl und Öl sparen.
Getriebe sind meistens zu maximal 50 Prozent ausgelastet. Hier kann man viel Stahl und Öl sparen.
Sie haben ein individuelles Getriebe entwickelt, dessen Konfiguration sehr einfach ist, das überall rein passt, einfach anzuschließen ist und nachhaltig ist es auch noch. Gibt es für Sie überhaupt noch etwas zu entwickeln?
Reimann: Der deutsche Ingenieur findet immer noch etwas, das er verbessern kann! [er lacht] Aber tatsächlich ist Flender One nur die erste Getriebe-Auskopplung. Im nächsten Jahr folgen weitere Getriebe und wir wollen die Individualisierung weiter bringen. Auch die Möglichkeiten, die wir vor dem Projekt noch nicht hatten, wie Digitalisierung und künstliche Intelligenz, werden uns weitere Entwicklungen bringen.
Da bin ich gespannt, was Sie uns demnächst zeigen werden! Dürfen Sie schon verraten ab wann?
Reimann: Im kommenden Jahr geht’s los.