Foto: Rösberg

Software

Mixed Reality in der industriellen Praxis

Wo Software den Menschen bei der Arbeit unterstützt, stellt sich immer auch die Frage nach der besten Mensch-Maschine-Schnittstelle. Können hier Lösungen aus dem Bereich Mixed Reality Anwendern künftig die Arbeit erleichtern?

Da viele mit den Begrifflichkeiten rund um Virtual, Augmented und Mixed Reality nicht umfassend vertraut sind, vorab einige Definitionen: Unter Virtual Reality versteht man das vollständige Simulieren einer virtuellen Realität. Augmented Reality dagegen erweitert die physikalische Realität mit virtuellen Aspekten. Der Begriff Mixed Reality schließlich wird aktuell verwendet, um all jene Medien zu beschreiben, die zwischen den Polen physikalischer und virtueller Umgebung liegen, dient also als Überbegriff (Bild 1). Das Mixed-Reality-Spektrum wird an seinen Rändern von physikalischer zur einen und digitaler Realität zur anderen Seite hin eingegrenzt.

Typische Anwendungsfälle

Ehe man sich damit auseinandersetzt, ob und wenn ja, wie sich Mixed Reality in der Prozessindustrie heute bereits technisch nutzen lässt, stellt sich die Frage nach potentiellen Anwendungsfällen. Gibt es Anwendungen, die von einer derartigen Mensch-Maschinen-Schnittstelle jetzt oder in naher Zukunft profitieren können? Die Antwort lautet ja. Ein großes Potential liegt in der Anlagenwartung. In den ausgedehnten Anlagen der Prozessindustrie kann es bei der Wartung bereits schwierig sein, die richtige Komponente ausfindig zu machen. Hier wäre denkbar, dass eine Mixed-Reality-Lösung einen Mitarbeiter quasi durch die Anlage navigiert. Direkt vor Ort könnte sie ihm dann die Informationen der zu wartenden Komponenten anzeigen und Zugriff auf benötigte Dokumentation gewähren. Und bei alldem hat der Techniker beide Hände für seine eigentliche Aufgabe frei.

Aber auch auf Leitebene findet sich ein sinnvoller Einsatzbereich. Anstatt die Informationen des Prozessleitsystems auf großen Bildschirmen an zentraler Stelle darzustellen, ließen sich diese auf Head-Mounted-Devices (HMD) anzeigen. Dank der damit einhergehenden Mobilität wäre es dann möglich, den äußeren Zustand der Anlage mit den Messwerten einzelner Geräte vor Ort abzugleichen.

Ein weiteres Einsatzgebiet sind repetitive Prozesse, also eintönige, wiederkehrenden Tätigkeiten. Auch hier finden sich Einsatzbereiche für Mixed-Reality-Lösungen. Menschen neigen bei solchen Tätigkeiten oft zum Ermüden und machen dann leichter Fehler. Hier könnten entsprechende Mixed-Reality-Konzepte Mitarbeitern helfen, effizienter zu arbeiten, gleichbleibende Prozesse automatisiert auszuführen und alle Schritte zu dokumentieren. Sicher gibt es neben den genannten Beispielen zahlreiche weitere potentielle Einsatzfelder für Mixed-Reality-Lösungen, so dass die Frage nach der technischen Machbarkeit durchaus berechtigt ist.

Wohin geht die Zukunft?

Die Rösberg Engineering GmbH aus Karlsruhe hat sich dieser Herausforderung gestellt. Das Unternehmen ist spezialisiert auf die Prozessindustrie und bietet einerseits Softwarelösungen, die Anlagenbauer und -betreiber während des kompletten Anlagenlebenszyklus bei ihrer Arbeit unterstützen. Andererseits bieten die Karlsruher Dienstleistungen beim Um- und Neubau von prozesstechnischer Anlagen. Als Automatisierungsexperten fragen sie sich natürlich auch, welche Trends künftig die Branche beeinflussen werden und setzen sich mit der tatsächlichen Machbarkeit auseinander. Deshalb hat das Unternehmen im Zuge einer Bachelorarbeit Stefan Stegmüller, einen Studenten aus dem dualen Studiengang Informationstechnik, mit der Aufgabe betraut, sich mit dem Stand der Technik in diesem Bereich auseinanderzusetzen. Darüber erprobte der Student den Praxisnutzen einer Mixed-Reality-Lösung anhand eines Versuchsaufbaus, der eine reale Anlagensituation nachstellt. Dabei galt es, gleichzeitig den Realisierungsaufwand abzuschätzen und potentielle Schwierigkeiten ausfindig zu machen.

Mixed Reality: Ein Use Case

Der für das Forschungsprojekt gewählte Anwendungsfall setzt auf den Plant Assist Manager (PAM) der Automatisierungsexperten auf. Diese Software unterstützt Anwender beim Durchführen und Dokumentieren von Prozessabläufen (Workflows), wie beispielsweise das Befüllen von Tanklastzügen. Dazu werden die Workflows optimiert, automatisch dokumentiert und dann bislang bspw. auf mobilen Endgeräten angezeigt. Mit Hilfe spezieller Checklisten wird der Anwender durch die Arbeitsprozesse geführt und hat somit alle relevanten Informationen auf einen Blick verfügbar. Für diese Anwendung bietet sich ein HMD als Mensch-Maschine-Schnittstelle perfekt an. Machbarkeit und Nutzen galt es im Rahmen der Bachelorarbeit zu prüfen.

Dazu arbeitete Stegmüller mit einem Versuchsaufbau, der eine real existierende Tankabfüllanlage in kleinerem Maßstab abbildet. Beim Befüllen von Tanks mit chemischen Stoffen ist es äußerst wichtig, dass es nicht zu Fehlern kommt, da diese gefährlich werden können. Hierbei helfen die entsprechenden Checklisten. Ziel war es, den Anwender mit Hilfe der Microsoft Holo Lens durch den Befüllprozess zu navigieren.

Vorteile und Herausforderungen aus der Praxis

Die Vorteile dieser Lösung liegen auf der Hand: Mitarbeiter müssen nicht immer zwischen der Arbeit selbst und dem Tablet mit den nötigen Instruktionen hin- und herwechseln, sondern haben direkt bei der Arbeit alle Informationen “vor Augen“. Per Gesten- oder Sprachsteuerung können sie erledigte Tätigkeiten einfach quittieren und haben zum Arbeiten beide Hände frei. Zudem ist eine solche Art der Bedienung deutlich intuitiver, wenn die nötigen Arbeitsanweisungen direkt mit dem jeweiligen Anlagenteil bspw. dem zu öffnenden Schieber visuell verknüpft sind.

Wesentliche Herausforderungen lagen in der Wahl der geeigneten Trackingmethode, also die Frage, wie sich virtuelle Inhalte in der realen Umgebung verankern lassen. Dies ist essentiell, damit die angezeigten Informationen auch jeweils an der richtigen Stelle eingeblendet werden können. Prinzipiell gibt es dafür folgende Methoden: magnetisches oder Infrarot-Tracking sowie Tracking mit sichtbarem Licht oder mit Hilfe von Trägheit (mit einer Inertial Measurement Unit, kurz IMU). Beim Tracking mit sichtbarem Licht wird nochmals unterschieden in Tracking anhand natürlicher Merkmale, referenziertes oder modellbasiertes Tracking. Stegmüller berichtet: „Ich habe in meinem Fall im Wesentlichen die Möglichkeiten des Trackings von natürlichen Merkmalen, also markanten Merkmalen natürlicher Bilder sowie Tracking von Referenzmarken, wie QR-Codes, in Betracht gezogen. Die Wahl fiel schließlich zuerst auf QR-Codes und dann auf Markierungen in Form von Bildern mit Dreiecken zufälliger Größe, Anordnung und Rotation. Diese Variante hat sich als vorteilhaft erwiesen, da sich diese Bilder anhand des verwendeten Algorithmus eindeutig identifizieren lassen. Bei der Nutzung von QR-Codes als Ankerpunkte von virtuellem Inhalt kann es während der Auswertung, auf Grund ihrer gleichen Grundstruktur, zu Verwechslungen kommen.

Reibungsloses Zusammenspiel

Eine weitere wesentliche Herausforderung bei der Umsetzung des Systems fand sich beim Zusammenspiel der einzelnen Komponenten wie SPS, Datenbanken, Software und Holo Lens: Welche Komponenten sind miteinander kompatibel und wo müssen noch Schnittstellen entwickelt werden? Bis eine endgültige Lösung gefunden war, mussten ursprünglich entwickelte Konzepte des Systems mehrfach überdacht und angepasst werden. Anhand des Forschungsprojekts wurde deutlich, dass der Einsatz einer Mixed-Reality-Lösung in der industriellen Praxis durchaus realisierbar ist. Es gilt natürlich im jeweiligen Fall zwischen Aufwand und Nutzen abzuwägen. Stegmüller resümiert: „Hier wird sich in den kommenden Jahren einiges tun und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sich Mixed-Reality-Brillen wie die Holo Lens in absehbarer Zeit Praxisanwendungen in der Prozessindustrie erschließen werden. Der Praxistest zeigt, dass sich diese Mensch-Maschine-Schnittstelle und Tools wie der Plant Assist Manager bestens ergänzen. Wir freuen uns auf erste Anwendungen in der industriellen Praxis.“

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